© Philipp Herfort/TMGSDie Globalisierung war noch nicht erfunden, als im Jahr 1876 die Firma Adolf Bleichert & Co. in Leipzig gegründet wurde. Doch bald schon hatte das Stahlbauunternehmen Niederlassungen in Brüssel, Paris und London. Die Spezialität der Leipziger Ingenieure war nämlich weltweit gefragt: Drahtseilbahnen. Bis zum Ersten Weltkrieg stellte der damalige Weltmarktführer immer neue Rekorde auf. Die damals längste und höchste Seilbahn installierten die Leipziger in Argentinien, sie führte über 43 Kilometer bis auf 4.630 Meter Höhe. Ihre steilste Bahn meisterte im heutigen Tansania 86 Prozent Weltrekord-Anstieg, die nördlichste Bahn ging in Spitzbergen jenseits des Polarkreises in Dienst, die südlichste in Chile. Mehr als 4.000 Drahtseilbahnen haben Adolf Bleichert & Co. ausgeliefert, zwei sind noch heute in Barcelona beliebte Touristenattraktionen. In ihrer sächsischen Heimat war das Bleichert-Know-how seltener gefragt, doch in Grimma wurde 1924 ein ganz besonderes Projekt abgeschlossen: die einzige Brücke von Adolf Bleichert & Co.
Von Brückengeld und Sprengstoff
© Stadt Grimma - ArchivWeil die alte Muldebrücke unterhalb der Gattersburg immer wieder durch Hochwasser beschädigt oder zerstört worden war, suchte der Rat der Stadt Grimma nach einer besseren Lösung und holte Angebote für einen „hochwassersicheren Ketten- oder Drahtseilsteg“ ein. Die Drahtseilhängebrücke der Leipziger Seilbahnspezialisten machte das Rennen und wurde nach kaum 4 Monaten Bauzeit am 12. Oktober 1924 eingeweiht. Mit 80 Metern Spannweite und 1,80 Metern Breite erlaubte sie fortan eine sichere Flussquerung, viereinhalb Meter über den Wassern der Mulde. Kostenlos war dieses Vergnügen damals aber nicht. Um die Baukosten von 56.000 Mark zu refinanzieren, erhob die Stadt ein Brückengeld von 5 Pfennigen pro Erwachsenem. Arbeiter und Schulkinder zahlten nur 2 Pfennige. Die Rechnung der Stadt ging in doppelter Hinsicht auf: Eine neue Rodelstrecke samt Eislaufbahn im Stadtwald kurbelte den lukrativen Brückenverkehr weiter an, und den folgenden Hochwassern hielt die Stahlkonstruktion erwartungsgemäß stand. Nicht jedoch den fliehenden Truppen der Wehrmacht. Die sprengten kurz vor dem Einmarsch der US-Amerikaner noch im April 1945 alle Muldebrücken der Stadt. Damit begann ein neues, wechselhaftes Kapitel desmarkanten technischen Denkmals. Auf ihre Zerstörung zum Kriegsende folgte ab 1948 der Wiederaufbau. Unter sowjetischem Managementerneuerte ein Bleichert-Nachfolgeunternehmen die Brücke, die zu Pfingsten 1949 wieder für den Verkehr freigegeben wurde. Fast 40 Jahre lang hielt die Konstruktion erneut allen Wassern stand, bis 1987 der Rost das Kommando übernahm. Die Tragseile konnten die Last der Hängebrücke nicht länger tragen, der eiserne Steg wurde erneut gesperrt. Die Sanierung der Seile gestaltete sich schwierig und so dauerte es bis zum Frühjahr 1990, dass die Grimmaer wieder ihre Brücke passieren konnten.
... dann kamen die Fluten
Im „Schicksalsjahr“ der Stadt war die Brücke unter der Gattersburg ein weiteres Mal dem Untergang geweiht, dieses Mal im wörtlichen Sinn. Dem verheerenden Augusthochwasser von 2002 konnte auch die flexible Drahtseilkonstruktion nicht Stand halten. Die Gewalt der Fluten verdrehte die gesamte Konstruktion in sich, begünstigt durch tonnenschweres Treibgut. Den fraglichen Sanierungschancen zum Trotz gelang binnen eines Jahres der Wiederaufbau. Ein gesamtes Brückensegment wurde in dieser Zeit neu hergestellt, und genau am Jahrestag der Flut weihten die Grimmaer gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt ihre Brücke am 13. August 2003 wieder ein. Die Erleichterung nach dem „Jahrhunderthochwasser“ währte allerdings nur zehn Jahre. Ein weiteres Hochwasser beschädigte die Brücke im Juni 2013 erneut stark – und wieder entschloss man sich in Grimma zur Sanierung. So spannt sich Sachsens längste Hängebrücke noch immer über den Fluss, als Symbol für Beständigkeit und Ingenieurskunst. Im Herbst 2024 feiert die Stadt den 100. Jahrestag der Eröffnung und wird dann auch an die Geschichte dieser außergewöhnlichen Flussquerung erinnern.